Was ist Ernten? - Mehr als Ergebnissicherung!
Wozu wollen wir Ergebnisse „ernten“?!
Wer Menschen zur Entwicklung von Vision und Strategie, zur Diskussion von Problemen, zum Finden von Lösungen oder Entscheidungen bzw. zum innovativen Denken zusammenruft, will die Ergebnisse festhalten. Protokolle und Berichte, eine Dokumentation, ein Fotoprotokoll … die Ergebnisse werden zumeist schriftlich (bzw. auf abfotografierten Plakaten) gesichert. Ein Protokoll erfüllt im Wesentlichen die Aufgabe des Nachweises und der Nachvollziehbarkeit von Vereinbarungen und Entscheidungen im Nachhinein und gehört damit zur Grundausstattung jeder ordentlichen Verwaltungsarbeit.
Oft stellen wir jedoch fest: Für dieses Meeting, jenes Treffen des Teams, diesen spannenden Workshop – da bräuchte es etwas anderes als eine bloße Niederschrift. Mit Art of Hosting und anderen Settings partizipatorischen Arbeitens haben wir Zugang zu Wissen und Methoden, um gute Gespräche in Gang zu bringen.
Aber welche Techniken und Werkzeuge unterstützen uns dabei, die Erkenntnisse und Ergebnisse aus diesen Gesprächen auch wirksam in unseren Alltag zu bringen?
Welches Wissen brauchen wir, um die Früchte guter Gespräche allen Beteiligten und ihrem Umfeld nutzbar zu machen?
Wie können wir einen kreativen Beteiligungsprozess so dokumentieren, dass die Ergebnisse nachvollziehbar, motivierend und inspirierend werden für die Umsetzung…?
… und das nicht nur für die Anwesenden, die nach dem Meeting „vom Wissen zum Tun“ kommen wollen, sondern auch für Stakeholder und das Umfeld der beteiligten Organisationen?
Und wenn wir im Meeting (noch) keine konkreten Ergebnisse und Handlungen (im Sinne einer „To do-Liste“) gefunden haben: welche neuen Fragen sind entstanden?
Mehr als Niederschreiben = Ernten
„Harvest“ übersetzen wir mit „Ernte“, „Ertrag“ und „Gewinn“ – diese Begriffe spannen im Deutschen einen Bogen vom Konkreten („Ernte“) zum Abstrakteren („Ertrag, Gewinn“) und lassen im übertragenen Sinn nicht nur an Feldfrüchte denken. Die Ernte-Metapher ist hilfreich: Denn anders als es bei Protokollen, Niederschriften, Berichten der Fall ist, impliziert die Rede von der „Ernte“ auch deren Weiterverarbeitung und Weitergabe. Protokolle werden abgelegt. Die Ernte-Ergebnisse hingegen werden zu Produkten eingekocht, haltbar gemacht, veredelt, essenzialisiert – mit dem Ziel, dass möglichst viele davon zehren können. Das Niedergeschriebene (Protokollierte) ist also das Rohmaterial; der Prozess des Erntens hingegen hebt bunt und schmackhaft, sinnlich erfassbar und sichtbar den Erfolg und Ertrag der Bemühungen hervor. Die erreichten Ergebnisse bzw. Teilschritte werden wertschätzend aufbereitet – auch unter Berücksichtigung der emotionalen Komponente. So mag es im Gespräch berührende Momente gegeben haben oder gemeinsames Lachen und Spaß, und dies alles findet seinen Niederschlag auch in der Ernte. Geerntet wird Lebendiges: Früchte, Gemüse, Blumen, Bäume, Samen.
Dieses kann verarbeitet aber auch für die neue Aussaat verwendet werden. In Konversationen und Meetings geht es um lebende / lebendige Systeme. Der Ertrag aus diesen Begegnungen kann ebenso nahrhaft sein wie die Feldfrüchte bzw. weitere Prozesse des Wachstums und der Entwicklung nach sich ziehen. Außerdem erinnert uns das Diktum von der „Ernte“ auch daran, in unseren Treffen nicht nur ständig neue Ideen und Lösungen hervorzubringen, die wir danach nicht umsetzen. Das wäre so, als würden wir ständig nur säen und das Feld bestellen – aber niemals ernten. Wir finden also das Bild hilfreich und verwenden daher die Begriffe „Ernten“, „Harvesting“ und auch den erweiterten Begriff der „Ertragssicherung“ für den Prozess, die Ergebnisse aus wichtigen Gesprächen füreinander und für andere nutzbar, brauch-bar zu machen.
Wo die Ernte beginnt: Bedarf und Ziel
Auch hier können wir noch einmal tiefer in die Metapher einsteigen. Denn bevor eine Gärtnerin oder ein Bauer das Beet bzw. das Feld bestellt, hat sie/er sich schon überlegt: Was brauche ich? Was will ich ernten? So wird zunächst das Feld bestellt, der Boden hergerichtet, Kompost oder Mist eingearbeitet – alles Tätigkeiten, die VOR der eigentlichen Aussaat zu tun sind. Wir werden noch ausführlicher darstellen, dass diese Vorbereitung der Ernte lange vor der Zusammenkunft beginnt. Hier wollen wir vor allem auf die zentrale Perspektive hinweisen, unter der aus unserer Sicht jeder Prozess, jedes Meeting, jede Zusammenkunft geplant und auch die Ernte durchgeführt werden muss:
Der erste Blick richtet sich auf den Bedarf: Was fehlt uns, woran leiden wir Mangel (in unserem Unternehmen, der Organisation, dem Verein, der Gruppierung…), wo orten wir eine Notlage, die wir beheben wollen (oder müssen)? Das heißt: Was ist der Bedarf, das Bedürfnis, das durch diese Zusammenkunft gestillt werden soll? (Die internationale Art of Hosting & Harvesting- Community verwendet hierfür den Begriff „need“.)
Welche kraftvolle Frage ergibt sich aus diesem Bedarf?
Und schließlich: Welchen Zweck, welches Ziel verfolgen wir den Gesprächen, zu denen wir einladen? Was wollen wir erreichen? Welche Art von Ernte würde unsere Handlungsfähigkeit unterstützen und unsere Entscheidungen auch für Menschen nachvollziehbar machen, die selbst nicht am Prozess teilgenommen haben? („purpose“)
„Need and Purpose“ – Bedürfnis und Ziel bzw. Absicht stehen also am Beginn einer jeden Planung für ein Treffen, in dem wir zu Beteiligung und zum kollektiven Nachdenken einladen. Die Ernte richtet sich nach dem, was wir brauchen:
Sind es politische Forderungen, wird die Ernte einen Forderungskatalog und Argumente umfassen. Brauchen wir Ideen für einen Aktionstag, werden wir diese sammeln, im Hinblick auf Ziel und Umsetzungsmöglichkeit bewerten und priorisieren. Wenn wir ein bislang wenig diskutiertes Phänomen ausleuchten wollen, wird die Ernte Begriffsklärungen, (Aus)Wirkungen des Phänomens und Bedarfe der Akteure erheben, die mit dem Phänomen zusammenhängen.
Mit einer Ernte wird es möglich, „mehr“ zu erfassen als mit einem Protokoll: Stimmung und Emotionen, Tendenzen in der Gruppe und individuelle „Ausreißer“; Bilder, Geschichten und Erfahrungen. Die Ernte, wenn sie gelingt, schafft Bindung und Verbindlichkeit und unterstützt jede/n einzelnen bei der Übernahme der je eigenen Verantwortung für die Umsetzung der Ergebnisse.
Worum geht es im Prozess des Erntens?
Die Ernte generiert bedeutungsvolle Ergebnisse, die einen „Mehrwert“ mit sich bringen: Wir nutzen die Unterschiedlichkeit der Gruppe und bringen verschiedene Perspektiven auf das Thema/die Frage ein. In der Ernte werden alle diese Perspektiven festgehalten: Sie dokumentiert nicht nur den „Mainstream“, sondern auch randständige Gedanken, Ideen und „Ausreißer“. Dadurch ist es möglich, achtsamer und aufmerksamer ins Handeln zu gehen. Wir entwickeln eine besondere, weil kollektive, Klarheit darüber, was wann zu tun ist. Dies gelingt unter anderem deswegen, weil die Ernte das gemeinsame Gespür zur Bedürfnislage und zum gemeinsamen Ziel in den Beteiligten wachhält. Im gemeinsamen Handeln kann man sich immer wieder darauf beziehen: Wie haben wir das noch gemeint? Womit wollten wir anfangen? Was ist meine/unsere Rolle dabei? Die Ernte kann alle möglichen Formen annehmen: Bilder, Texte, Fotos, Geschichten, Listen, Thesen und vieles andere mehr.
Was ist der Zweck und die Absicht einer guten Ernte?
individuelles und gemeinschaftliches (kollektives) Wissen und Verstehen zu erkennen
unsere gemeinsame Intelligenz, Klarheit und Tatkraft zu unterstützen
individuelle und kollektive Lernprozesse sichtbar zu machen und die Verwertung der gewonnenen Erkenntnisse zu fördern.
Beim Ernten geht es um Sinnstiftung und darum, das Gelernte und die neuen Erkenntnisse so relevant und brauchbar wie möglich zu machen.
Mehrwert von Ernte
Jedes Protokoll, jede Ergebnissicherung versucht
das neue gemeinsame Wissen zusammenzufassen und für Externe verständlich zu machen
die Komplexität zu reduzieren
Workshop und Ergebnis im größeren Ganzen zu verorten
eine Gedankenstütze zu sein zum Gewesenen
den Bezug zur Ausgangsfrage bzw. zum Ziel des Workshops darzustellen.
Der Mehrwert einer Ernte resultiert aus seiner Grundanlage: Sie wird meist von einem Team gemacht bzw. verantwortet. Sie steht in enger Verbindung zum vorangegangenen Prozess und versucht, die LeserIn auf diesen rückzuverbinden.
Wir verstehen die Ernte als eigenen (weiteren) Prozess.
Daraus versuchen wir folgende Mehrwerte zu generieren:
Wir erweitern unseren Blick auf alle Ergebnis-Dimensionen, die sichtbaren und die unsichtbaren, auf die kollektiven wie auf die individuellen. Fotos und bildliche Darstellungen können Atmosphärisches und Emotionen transportieren. Damit erhalten die TeilnehmerInnen mehrere Ebenen, an denen sie anknüpfen können (bspw. Inhalt/Fakten, selbst Formuliertes, persönliche Verbindungen und Emotionen, Prozess und Ablauf …).
Durch die Rückverbindung zum Prozess versucht die Ernte, die oft im Workshop erlebte, persönliche Handlungsenergie wieder in Erinnerung zu rufen: Meist geht es ja darum, nach dem Treffen ins Handeln zu kommen.
Ein Art of Hosting-Prozess ist u. a. darauf ausgelegt, die persönlichen Beziehungen gleichwertig neben die inhaltliche Ebene zu stellen und damit ein „Wir“ zu erzeugen. Dieses „Wir“ soll durch die Ernte ebenfalls wieder in Erinnerung gerufen werden, wodurch die Handlungsenergie nochmals gesteigert werden kann.
Das Erarbeiten der Ernte ist ein eigener Prozess. Und in diesem Ernteprozess eignen sich die Durchführenden (bspw. das Kernteam) die Ergebnisse des Workshops noch einmal intensiv an und erzeugen damit ein weiteres, noch stärkeres „Wir“ – und meist auch zusätzliche Erkenntnisse und Ergebnisse.
Sowohl aus diesem Aneignen (‚Verdauen‘) als auch aus dem „Ernte-Team -Wir“ kann zusätzliche Handlungsenergie resultieren.
Ziel einer Ergebnissicherung ist oft auch, Zusammenhänge und Muster sichtbar zu machen. Wenn die Ergebnissicherung / Ernte von einem Team erstellt wird, kann sie breiter und umfassender ausfallen – viele Augen sehen mehr als zwei (und bringen unterschiedliche Eindrücke und Erfahrungen aus dem Workshop mit).
Fast jedes Protokoll stellt den ursprünglichen Bedarf und die Absicht für die Workshop- Durchführung dar. Eine Ernte, die zusätzlich vielfältige Anknüpfungspunkte liefert, Handlungsenergie und Emotion erzeugt sowie das „Wir“ in Erinnerung ruft, stellt eine stabilere Basis für den nächsten Prozess dar: Klarere und „gemeinsamere“ Fragen, kollektiv getragene Absichten und ein Gemeinschaftsgefühl lassen den Fluss (flow) weiter fließen – zum nächsten Workshop, zu weiteren Gesprächen, zum inneren Sortieren und Ausarbeiten, zum Energie tanken für den nächsten größeren Schritt …