Die vier Dimensionen der Ernte

Ernte vollzieht sich immer individuell und kollektiv – das, was sich der/die Einzelne aus einem Meeting mitnimmt, kann sich unterscheiden von dem, was die Gemeinschaft als ihr kollektives Ergebnis ansieht. Ernte geschieht immer auch explizit (materiell / greifbar / sichtbar) auf der einen Seite und hat gleichzeitig eine implizite (immaterielle / nicht greifbare / unsichtbare) Dimension.

Ernte ist nicht nur „das, was am Ende eines Treffens oder eines Workshops herauskommt“: Ernten geschieht immer wieder zwischendrin. Einzelne TeilnehmerInnen schreiben mit, notieren sich Quellen, die sie später weiterverfolgen möchten, kritzeln auf ihrem Block und tauschen mit ihrem Sitznachbarn Telefonnummern aus.

In der Arbeit der Gruppe entstehen Plakate, Cluster oder gemeinsame Mindmaps, in geübten Gruppen auch ein explizites Verständnis der gemeinsamen Muster und Tendenzen. Das Thema, die „Sache“ nimmt Raum ein in der expliziten Dimension, dazu kommen alle explizit gemachten emotionalen Inhalte („Da gibt es ein gemeinsames Interesse, gemeinsame Begeisterung, gemeinsame Ablehnung“ oder „Einzelne schütteln den Kopf…“ etc.).

Spannend für die GastgeberInnen (Hosts) einer Zusammenkunft und auch die TeilnehmerInnen ist es immer wieder, auch die implizite, die „stille“ Seite der Ernte ans Licht zu holen. Denn diese nicht ausgesprochene Dimension speist sich vor allem aus dem Atmosphärischen, spielt sich auf der Beziehungsebene ab. Das Unsichtbare kann durch Fragen nach dem Atmosphärischen oder den inneren Prozessen sichtbar gemacht werden.

Zum Beispiel regt die Frage „Was hat mich jetzt inspiriert?“ eine Anreicherung und Verdichtung an, die im Rahmen eines Treffens den bisherigen Prozess zusammenfassen, ihn aber auch neu beleben und ihm eine neue Richtung geben kann. Werden diese Fragen gestellt und ist die Gruppe bereit, sich in der Arbeit zwischendrin selbst zu „unterbrechen“, um auf das Implizite zu schauen, bereichert das die Gespräche und macht es möglich, in der Ernte auch die „stillen“ Faktoren wahrnehmbar zu machen und in Erinnerung zu halten.

Viele Zusammenkünfte haben das Ziel, zu guten und nachhaltigen Veränderungen beizutragen. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir unsere Perspektive auf und unsere Wahrnehmung von der Welt verändern (lassen). Jede/r einzelne von uns nimmt wahr, was um ihn/sie herum geschieht – so orientieren wir uns und können entsprechend reagieren (So gesehen, „ernten“ wir die ganze Zeit: Wir nehmen wahr, interpretieren, fokussieren und handeln entsprechend unseren Einschätzungen). Die individuelle Ernte in einem Beteiligungsprozess kann nun unterstützt werden durch persönliche Reflexion, Schreiben (Journaling), etc. – und diese individuelle Ernte eines/einer jeden Einzelnen in einem Workshop oder Meeting trägt tatsächlich dazu bei, besser zu lernen, aufmerksamer und präsenter zu sein und einen eigenen Beitrag zur gemeinsamen Frage bzw. zum kollektiven Anliegen zu leisten.

Wenn es aber darum geht, in einer Zusammenkunft zu gemeinsamen Entscheidungen, zu gemeinsamen Strategien und zu gemeinsamem, untereinander abgestimmten Handeln zu kommen, ist es unerlässlich, kollektiv zu ernten. Die Gruppe muss das gemeinsame Wissen explizit machen, um es nützen zu können. Wenn Einsichten und Erkenntnisse geteilt werden und sich in wesentlichen inhaltlichen Punkten eine gemeinsame Klarheit entwickelt hat, dann wird die Gruppe als Ganze zu einem intelligenten, lernenden „Körper“. Die gemeinsame Ernte ermöglicht Emergenz und sammelt mehr und unterschiedlichere Früchte ein, als dies die Ernte eines Einzelnen kann. Wenn eine Gruppe gemeinsam erntet, erreicht sie im Gespräch auch eine Meta-Ebene, auf der es möglich wird, mehr Abstand zu in den besprochenen Themen zu bekommen und sie gleichzeitig zu verdichten.

Die besten Ernte-Ergebnisse erreichen wir, wenn die Kerngruppe selbst sich zu 100% zunächst im Prozess und im gemeinsamen Auswerten engagiert – in einer gemeinsamen Ernte des gemeinsamen Anliegens. Das ist nicht immer möglich, vor allem, wenn die Zeit knapp ist oder sehr viele Daten bearbeitet werden müssen. Sollten also die Stakeholder nicht im Ernteprozess mitarbeiten, ist es sinnvoll, ein gutes und inspiriertes Ernte-Team zusammenzustellen, die eine große Bandbreite an unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema mitbringen und die selbst unterschiedliche Fähigkeiten (Schreiben, Essenzialisieren, graphic facilitation etc.) haben. Die Ernte sollte in jedem Fall zeitnah nach dem Event passieren und dann ebenso zeitnah in das System zurückgespielt werden, das die Konversation zu dem Thema/Anliegen initiiert hat.