Gemeinsames Ernten von Geschichten (Collective Story Harvesting)

Eine der wirkungsvollsten Anwendungen, die die Art of Hosting - Gemeinschaft kennt, ist jene des Collective Story Harvesting oder wie man deutsch sagen könnte, dem „Gemeinsamen Ernten von Geschichten“. Die Methode verbindet drei unterschiedliche Elemente miteinander; Storytelling, Hosting und Harvesting (Geschichten erzählen, beherbergen und ernten). So wie sie hier beschrieben wird, wurde die Methode von Mary Alice Arthur, Monica Nissén und Toke Paludan Møller entwickelt.

Wahrscheinlich ist es eine der ältesten Formen wie wir als Menschheit lernen: Geschichten erzählen, Geschichten hören… – Seit Jahrtausenden sitzen Menschen im Kreis und erzählen sich von Erfahrungen, Abenteuer und Lernerfahrungen, die ihnen widerfahren sind. In Geschichten stecken Menschen und ihre Emotionen, Erfahrungen und Erlebnisse, aber auch Fakten und vor allem Lernprozesse – diese werden meistens hervorgehoben („die Moral von der Geschicht‘“). Geschichten aus der Praxis können komplexe Sachverhalte oft besser darstellen, als dies nüchterne Beschreibungen vermögen. Oft finden wir uns selbst in Geschichten wieder, dies inspiriert zu Gesprächen und Erfahrungsaustausch untereinander und regt wiederum das kollektive Lernen an.

Der Sinn und Zweck des Gemeinsamen Erntens von Geschichten:

  • Wir lassen erlebte Geschichten uns etwas lehren

  • Die Geschichten und die Erzählenden werden gewürdigt

  • Die Methode wird kennengelernt und eingeübt – denn Menschen und Organisationen brauchen es, dass ihre Geschichte/n erzählt und gehört (und gewürdigt) werden…

Zur Vorbereitung der Methode

1. Finde eine Geschichte

Es braucht eine gute Geschichte über einen Veränderungsprozess, der durch Beteiligung, Selbstorganisation (oder Selbstverantwortung), Emergenz… angestoßen / ermöglicht wurde. Ideal ist ein Handlungsstrang, der genug Komplexität, Tiefe und Länge hat, um interessant für die Zuhörer zu sein. Letztlich ist jede systemische Geschichte, die von einem Wandel / einem Lernen berichtet, geeignet. Die Diversität der Teilnehmenden sollte sich in den ausgewählten Geschichten widerspiegeln. Die Geschichte sollte einen Durchbruch oder eine große Lernerfahrung in sich bergen, muss jedoch nicht zwingend „erfolgreich“ gewesen sein.

Wichtig ist dass die Person, die die Geschichte erzählt, diese selbst erlebt hat. So kann es auch sehr interessant sein, mehrere Personen, die in die Geschichte involviert waren, erzählen zu lassen. Somit wird ein noch tieferer und reichhaltiger Einblick gewährt und mehr Gesichtspunkte fließen ein.

Es muss dabei nicht eine oft erzählte oder aufpolierte Geschichte sein. Die Methode hilft dem Geschichtenerzählendem sich seiner Erzählung bewusst zu werden und zu ergänzen, wo es vielleicht noch eine Fokussierung oder Verfeinerung braucht.

Gemeinsames Geschichten Ernten braucht Zeit. Mit mindestens 90 Minuten muss gerechnet werden. Wenn man mit einer Gruppe während eines AoH-Trainings oder mit Personen, die noch nie so eine Art von Prozess gemacht haben zusammenarbeitet, ist es empfehlenswert das Erzählen der Geschichte auf ca. 30 Minuten zu limitieren. Je nach Erfahrung der Teilnehmenden und Kontext kann das Zusammenspielen von Geschichtenerzählen, Hosten und Ernten auch einen halben oder ganzen Tag oder noch länger andauern.

2. Klären der Ernte-Perspektiven

Überlegt im Hosting Team, was ihr gerne ernten würdet und was nach dem Prozess mit der Ernte passieren soll. Wählt jene Gesichtspunkte/Fragen, die in den Gesamtablauf (und zu dessen purpose) passen. Manchmal – aber nicht immer – ist es notwendig, dass jede Ernte-Perspektive (Frage, s.u.) von mindestens einer Person übernommen wird. Manchmal ist es auch OK, dass eine Perspektive nicht betrachtet (weil nicht gewählt) wird. Es ist übrigens kein Problem, wenn mehrere Personen den gleichen Gesichtspunkt wählen.

Mögliche Gesichtspunkte und Fragen für die Ernte:

  • Wie verläuft der rote Faden der Geschichte? Personen, Ereignisse, Schauplätze, Daten, Emotionen und Werte, die Teil der Geschichten sind, sollen festgehalten werden.

  • Welche Interventionen, Prozesse und Entdeckungen fallen dir auf?

  • Wann ereignete sich ein Durchbruch und was lernen wir daraus?

  • Was können wir von der Geschichte für unser eigenes System und für andere Kontexte lernen?

  • Was können wir von der Geschichte lernen, um selbst Veränderungsprozesse anzustoßen?

  • Welche Frage wirft die Geschichte auf, die wir uns in jedem System stellen können?

  • Was passierte in der Geschichte, dass auf Gleichzeitigkeit (Synchronizität) und „Magie“ hinweist?

  • Wie kann die Geschichte in einem Bild erzählt werden? Versuche, die Geschichte in einem Bild zu zeichnen.

  • Welche Arbeitsprinzipien leiten sich aus der Geschichte ab?

  • Was lernen wir über Beteiligung?

  • Wie wird „Lebendigkeit“ in der Geschichte sichtbar?

  • Wie hat sich das System und das Umfeld in der Geschichte geändert? Finde eine Metapher für das System zu Beginn und am Ende der Geschichte!

Wichtig: diese Ernteperspektive sollte jedes Mal vorkommen:

Präsenz und Aufmerksamkeit: was wirkt/bewegt sich in mir, was wirkt vom Gegenüber auf mich? Welche Stimmung habe ich bei mir selbst, bei den Zuhörenden, bei der Erzählerin… wahrgenommen? Welche Resonanz war für mich zu spüren?

Es ist auch möglich, zu einem speziellen Thema zu ernten: gemeinschaftliches Führen, die Kunst der Partizipation, gemeinsames Lernen, etc. – formuliert eure Perspektiven nach dem Vorbild der o.g. Beispiele.

3. Rollen und Funktionen:

Organisator:innen Hosting-Team

Geschichtenerzähende (1 pro Gruppe) Gruppen-Host

Erntehelfer:innen (6 pro Gruppe)

Zuhörende

4. Visualisierter Ablauf:

Zum Ablauf der Durchführung:

  • Im Vorfeld wurden angemessene Geschichten ausgewählt, die Geschichtenerzähler eingeladen - und diese haben sich vorbereitet.

  • Für jede Geschichte ist ein Host vorgesehen und eingeteilt. Geschichtenerzählende und Hosts wurden einander vorgestellt.

  • Für jede Geschichte ist ein Raum mit einem „zuhör- und erzählfreundlichen Setting“ (bequeme Sessel, Decken, Kissen, gestaltete Mitte, gedämpftes Licht…) vorbereitet

Einführung und Rahmen schaffen (15-20 Minuten): Begrüßung der Anwesenden, Einführung in den Ablauf: Die Geschichtenerzählenden berichten kurz, wovon die ihre Geschichte handelt. Die Teilnehmenden sollen sich um den jeweiligen Geschichtenerzählenden ihres Interesses sammeln. Wenn die Verteilung einigermaßen ausgeglichen ist, kann der jeweilige Gastgebende die Teil-Gruppe übernehmen und in die vorbereitete Örtlichkeit führen.

Das Erzählen der Geschichte (30 Minuten): Die jeweiligen Gastgebenden begrüßen, erklären den Ablauf und stellen die unterschiedlichen Gesichtspunkte/Fragen vor, unter denen die Geschichte geerntet werden soll (Plakate). Es muss nicht jede Person einen Gesichtspunkt einnehmen. Einfaches Zuhören kann genauso wertvoll sein.

Der Geschichtenerzählende wird eingeladen zu starten und die Teilnehmenden hören zu und ernten. Eine klare Zeitstruktur für den Erzählenden ist dabei sehr wichtig. (z.B. ein kleines Signal wenn noch 5 min Zeit sind).

Ernte in der Teil-Gruppe (30-50 min)

Die Erntenden können nach der Geschichte Verständnisfragen zu stellen. Danach kann jeder Erntende seine Einblicke erzählen und der Erzählende seine Erkenntnisse zur Verfügung stellen.

Für diesen Schritt braucht man mindestens so viel Zeit wie für das Erzählen der Geschichte.

Pause (20 min)

Gemeinsames Ernten (45-60 min)

  • Die gesamte Gruppe kommt wieder zusammen und alle, die dieselbe Aufgabe hatten, sind eingeladen zusammenzusitzen (z.B. Hosts, Perspektive „Magischer Moment“, Erntefrage „Lebendigkeit“…). Alle versuchen, einer übergeordneten (Metaharvesting) Frage nachzugehen z.B.: „Was für Bedingungen braucht es, damit Partizipatives Führen in unserem Kontext erfolgreich sein kann?“

  • Die Untergruppen präsentieren dann der großen Gruppe kurz ihre Erkenntnis. Es braucht wiederum viel Zeit um die Ernte zu ernten.

  • Zusätzliche Fragen: Was waren Geschenke für dich währende dem gemeinsamen Ernten? Was nimmst du mit aus der gesamten Arbeitseinheit?

Abschließen der Einheit:

Bedanke dich bei den Geschichtenerzählenden und den Erntenden. Erkläre was mit der präsentierten Ernte passiert.