Aufgaben der Ernte – „Vom Wissen zum Tun“
Als wesentliche Aufgabe einer Ernte sehen wir das Erzeugen von Handlungsenergie: Was macht ein gemeinsames Ergebnis so stark, dass es Handlungsenergie erzeugt? Nicht nur Gerald Hüther sagt: „Es muss leicht sein“. Und dann tun wir es einfach. Doch wie gelingt es, dass es sich leicht anfühlt?
Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923–1994, er prägte den Begriff der Salutogenese) hat drei Faktoren für das Entstehen von Gesundheit definiert:
Das Verstehen der Dinge und Zusammenhänge
Die Überzeugung, gestalten zu können, wirksam sein zu können
Der Glaube an einen Sinn hinter dem eigenen Tun…
Diese drei Faktoren sehen wir auch als Grundlage von Handlungsenergie. Und damit ist es Aufgabe der Ernte, sie so weit als möglich sichtbar zu machen und zu fördern. Das Ernte-Erzeugnis soll damit der Treibstoff sein, dass wir weitere Dinge ins Leben bringen.
Erfolgsfaktoren für das Entstehen dieser drei Wirkungen sind bspw.:
Klarheit in der Formulierung der Entscheidungen und Vorhaben
Erinnern an das gemeinsame Commitment
Bezug zu Bedarf und Absicht herstellen und damit den Sinn sichtbar machen
Einbeziehen des emotionalen Kontexts, von persönlichen Verbindungen
alle Ebenen des Ernte-Rasters (siehe Kap. 1.4) gut füllen, ausarbeiten
Verbündete des Anliegens mitdenken, einbeziehen
Neu entstandene Fragen explizit formulieren
darauf achten, was eine/n selbst und was das Ernte-Team und alle Teilnehmenden bei der Stange hält
Wenn es sich nicht leicht anfühlt: Es wagen, Dinge neu zu denken und neu zu formulieren.
Im Art of Hosting verwenden wir immer wieder mal den Satz „Was ist dein nächster eleganter Schritt?“. Die darin enthaltene Eleganz soll die Leichtigkeit ausdrücken. Der nächste Schritt soll sich geschmeidig anfühlen, leichtfallen, konkret sein, ev. klein.
Das Tun ist wichtig. Und das kann auch sein, einen weiteren Kontakt zu knüpfen und eine Beziehung aufzubauen, gezielte Fragen zu stellen, herauszufinden, in welcher Rolle ich dem nächsten Schritt am besten dienen kann…
Achtung: Filter und Fallen
„Ich kann nicht für andere, auch nicht ohne andere denken, noch können andere für mich denken.“ (Paulo Freire, 1973)
Eine Ernte sammelt Ergebnisse und Erkenntnisse, dokumentiert Geschehnisse und Gedanken und bildet die Basis für die nächsten oder weiterführenden Schritte (Gespräche, Veranstaltungen, Beziehungen, Forschungen …). Vergegenwärtigt man sich diese großen Chancen und den enormen Einfluss von Ernte für den weiteren Verlauf eines Vorhabens, zeigt sich auch, dass die Erntearbeit eine verantwortungsvolle Tätigkeit darstellt.
Ausgehend vom Anliegen, sich den jeweiligen Herausforderungen auf partizipative Art und Weise zu nähern und dafür zu sorgen, dass die gemeinsam erarbeiteten Lösungen breit getragen und nachhaltig umsetzbar sind, gilt es vor allem, sich die eigenen Beweggründe und Herangehensweisen für die Ernte bewusst zu machen und (selbst)kritisch zu reflektieren.
Bereits die Auswahl der im Prozess eingesetzten Methode ist entscheidend dafür, welche Dynamiken entstehen, und welche Ergebnisse erzielt werden (können) bzw. welche Aspekte unerwähnt oder im Hintergrund bleiben.
Auch die verschiedenen Ernte-Methoden filtern und gewichten die Ergebnisse eines Prozesses unterschiedlich. Die bewusste Entscheidung für oder gegen den Einsatz einer bestimmten Methode ist daher bedeutsam. Folgende Fragen sind für eine treffende Auswahl hilfreich:
WAS wird geerntet? Was ist wirklich wichtig? Die Antwort darauf geben am besten die InitiatorInnen und Beteiligten eines Prozesses selbst. Sie wissen, welcher Art die Ergebnisse sein müssen, um in ihren jeweiligen Anliegen weiter zu kommen.
WIE wird geerntet?
Werden Beobachtungen dokumentiert?
Werden diese interpretiert? Und von wem?
Macht eine Quantifizierung Sinn?
Wird gewertet bzw. bewertet?MIT WELCHEM ZIEL wird geerntet? Welche Konsequenzen hat diese Ernte?
Dient sie dazu, die (momentane) Stimmung in einer Gruppe sichtbar zu machen?
Sollen auf ihrer Basis Entscheidungen gefällt werden?
Dient sie zur Klärung und Verdichtung eines Themas?
Soll mit den Ernteergebnissen ein Thema untermauert oder ein größerer Kontext hergestellt werden?
Wie jede Methode oder Technik ist auch das Ernten nicht vor Manipulation gefeit – bewusst oder unbewusst. Wenn auch das selektive Interpretieren vielleicht vordergründig verführerisch scheint und einen schnellen Erfolg verspricht, erweisen sich Manipulationen doch auf lange Sicht als kontraproduktiv: Einmal misstrauisch gemacht lassen sich Menschen bei neuerlicher Einladung zur Beteiligung wesentlich schwerer zur Mitarbeit motivieren. Auch eine durch einen partizipativen Prozess entstandene gemeinsame Basis wird durch eine Miss-Ernte geschwächt oder sogar zerstört.
Ein vorbeugendes Mittel gegen „Miss-Ernten“ ist das kollektive Ernten, das Ernten im Team. Durch das Zusammenführen der individuell unterschiedlichen Blickwinkel auf die Ergebnisse werden Einseitigkeiten vermieden, übertriebene oder manipulative Interpretationen relativiert und die Nachvollziehbarkeit für Außenstehende vorerst im eigenen Team überprüft.
Die Zusammensetzung des Ernte-Teams hängt von der Aufgabenstellung ab: Die maßgeblich Verantwortlichen für den weiteren Prozess sollten jedenfalls Teil des Ernte-Teams sein. Ihre Anwesenheit sorgt dafür, dass die relevanten Daten sichergestellt werden und die Weichen für die Weiterarbeit passend gestellt werden. Mit Abschluss der Ernte beginnt der nächste Prozess.
Kurzgefasst: Hinter jeder Aktion steht eine bewusste oder unbewusste Absicht. Werden die der Ernte zugrundeliegenden Interessen transparent gemacht und wird achtsam damit umgegangen, ist ein wesentlicher Beitrag zu einer „ethischen Ernte“ geleistet und auch die Interpretationen, Deutungen und Bewertungen können als „Angebote“ wahrgenommen werden, die von den Beteiligten aufgegriffen und ggf. weiterbearbeitet werden.